KUNST ODER KLANG?

Text: Olaf Pyras
Translation: Keith David Harris

In dem weiten, dreiseitig geschlossenen großen Ausstellungsraum des Marburger Kunstvereins befindet sich die Titelarbeit: Breathing Space, 2015: 5400 Kalottenlautsprecher, 8-Kanal Audio, Litze. 

Betritt man den Raum in einer der stillen Pausen, ergeben sich zwei Verortungen: Aus den Nachbarräumen erklingen aus der Ferne die anderen,  zeitlich abgestimmten Arbeiten von Clara Oppel. Hier, an dem Hauptort, sind es zunächst die eigenen Schritte, die in dem resonanten Gehäuse verhallen. Ein ruhig geschwungenes Objekt erhebt sich leicht von dem schwarzen Steinboden. Ein silbriger Spiegelglanz von 5400 Lautsprecherkalotten mit ihren schwarzen Membranen beschreibt schimmernd einen ruhigen, geordneten wie ebenso rätselhaften Verlauf – gleich einem zahlenähnlichen Zeichen im Raum. 

Folgt der eigene Blick den klaren Außenkonturen, ist man an den Verlauf eines Weges erinnert, eines Flussufers mit Lichtern. Folgt man diesen weiter ins Innere, fängt der Blick an, in Schwingung zu geraten, sich zu drehen, wieder eine neue Abzweigung zu erwischen, einen Haltepunkt suchend, wieder an das konturierte Ufer gleiten zu wollen.

Obwohl die Bodenarbeit Breathing Space wie angeschnitten beginnt und endet, scheint es keinen Anfang und Ende zu geben: Der Blick kann überall starten und sich seinen Weg bahnen. Gleichzeitig wird der umgebene Raum in ruhige, mal enge, mal weite Flächen organisch proportioniert. Die skulpturale Aufforderung sagt: Ich möchte umschritten werden! Die Plätze und Flächen laden zur Erkundung ein, fordern zum Perspektivwechsel auf und ebenso zum Verweilen. Schon erlebt der Besuchende die Einladung zur ersten Atem- und Ruhepause, eine der vielen Deutungsbrücken von Breathing Space.

Bei näherer Betrachtung der silbrigen Lautsprecherkalotten gibt es eine Rückkopplung. Der Betrachtende kann sich der Spiegelwirkung nicht entziehen. In jedem Lautsprecher erscheint das eigene Spiegelbild (und das der umstehenden Personen) als „Fisheye“ Zerrbild. Es erinnert an Bill Violas frühe Videoarbeit des „weinenden“, tropfenden Wasserhahns von 1976, „He weeps for you“. Ein, die Umgebung spiegelnder Wassertropfen wird dabei live gefilmt und projiziert. Was Bill Viola in seiner Arbeit untersucht hatte, wird hier kongenial auf der Lautsprecherebene repetiert und zwar tausendfach: Ein Objekt das originär zur Schallabstrahlung dient, wirft die Wellen des sichtbaren Frequenzbereiches, des Lichtes, zurück und umgibt einen mit der unausweichlichen Gewissheit, Teil der Installation zu sein. Innen und außen. Das eine tritt mit dem anderen in Kommunikation. Das Werk und der Betrachter verkoppeln sich zum Betrachtenden im Werk. Hier kristallisiert sich die Grundstimmung von Clara Oppels Werk heraus: Es schafft den Tonus, die Betrachtenden zu sensibilisieren, zu stimmen, in Resonanz zu bringen und schließlich zu aktivieren. Es schafft, den Weg der multisensorischen Mehrdeutigkeit freizugeben und diesen mitzugehen. Jede Betrachtung einer Deutungsebene lässt eine weitere hervortreten und macht die innere Kohärenz der Mehrdeutigkeit deutlich: 

Werk  +  Raum

–––––––––––––––   = Ambiguität

Visuell + Auditiv 

DIMENSIONALITÄT

Noch einmal: Durchschreitet man Breathing Space, ist man mittels Schritten und Tritten Teil der akustischen Raumgestalt. Tritt man dem Werk näher, addiert einen die visuelle Ebene hinzu. 

Stellen wir uns einem Experiment: Wo befindet sich eine (nahezu) neutrale Wahrnehmungsposition? Versuch 1: Man begibt sich auf die Ebene der Lautsprecher und legt sich rücklings auf einen der Plätze an der Lautsprecherlandschaft. Der Ort und die Position verführen zum entspannten Hören. Welche Klänge sind in den Weg eingeschrieben und werden wieder freigesetzt? 

Breathing Space beginnt, mit atomisierten, rauschfarbenen Impulsen eine informelle Gestalt aus der Stille in den Raum zu heben. Basierend auf der Mehrkanaltechnik entsteht in der Weitläufigkeit der Installation ein skulpturaler Schaffensvorgang, eine figurale Dimensionierung, die mit leichter Bewegung den Raum durchmisst und ihn gleichsam einer neuen, musikalisch-dynamischen Skalierung unterzieht. Die Koordinaten heißen: fern und nah, leise und laut, heißen rechts-links, schnell-langsam, heißen unten und oben und rotierend.

Die Schallwellen verlassen die serielle Uniformität der Lautsprecher. Die klingend wachsende Gestalt im Raum lässt erste konkrete Verortungen zu: Menschliche, atemähnliche Geräusche, die auf ihrem Weg durch den resonanten Raum wandern und verhallen. Zunächst gleichmäßig wiederholt, dann farbig moduliert, um dabei zunehmend punktueller werdend ins Perkussive zu wechseln. Allmählich scheinen die Klänge die Bedeutungskonturen der Skulptur zu um-reißen. Zerteilte Wortfetzen entspringen dem akustischen Weg und nähern sich an. 

Das von Clara Oppel verwendete akustische Ausgangs-material basiert auf Naturklängen und Alltagsmaterialien: Atemgeräusche der Stimme, Flügelschläge eines Schmetterlings am Fenster, rufende Zugvögel, Fingerschnalzen, knarrende Türen, Laubrascheln, eine zitternde Metallfeder.  Auf die Frage nach ihrer Bearbeitungstechnik berichtet Clara Oppel von ihrer Klangrecherche mittels Schnitten und Zeitprozessen. Sie zerlegt und re-komponiert ihr Material bis zum Übergang vom Abstrakten ins Gegenständliche, vom Geräuschhaften in das Lautähnliche.

Diese Klangschichtungen triggern beim Hörenden immer wieder neue Assoziationsketten in diesem Spannungsfeld. Was aber ist mit dem eigenen Hörort? Wie erscheint die Klanggestalt an anderer Position im Raum? Es müsste Versuch 2 folgen: Wie klingt es in drei Meter Höhe? 

Aus der Installation erklingen modulierte Klangschleifen, es ziehen Klangfahnen an einem vorüber und schließlich verdichtet sich alles. Klang und Raum und das große Zeichen am Boden. Wie einen Schlüssel für das Ende dieser Welt und das Weiterdenken bietet Clara Oppel  eine große, semantische Conclusio: „Der Mensch ist der Traum seines Schattens“ des vorchristlichen Dichters Pindar. 

Dieser atemberaubende Satz hinterlässt den Besucher im Verhallen des Raumes. Es ist still, es atmet aus – man hat eine Aufgabe bekommen. Wer bis hier dieser skulpturalen Klangkunst gefolgt ist,  kann etwas von diesem Schatten mitnehmen.