Eines Schattens Traum sind Menschen
aus Pindar: Achte Pythische Ode
Text: Sylvia Wendrock
Übersetzung: Keith David Harris
An diesem Satz kann man vergehen, will man ihn verstehen. Er entstammt der Odensammlung Epikinae des griechischen Dichters Pindar aus dem fünften vorchristlichen Jahrhundert, der Chorlyrik für die Sieger der Olympischen Spiele verfasste. Sie war als Kantate, also musisch und inszeniert gedacht, und hinterfragte die Bedeutung eines Sieges bezüglich der Dauer und Gestalt eines Menschenlebens, das durch einen ersten und einen letzten Atemzug in seiner irdischen Form begrenzt und geformt wird. Und er bildet das sprachliche Klangmaterial für Clara Oppels Breathing Space, das 5400 Lautsprecher auf dem Boden zu einem geschwungenen Zeichen verdichtet, aus dem Klänge aufsteigen, sich an den Wänden fortbewegen und überlagern und je nach Position des Hörers zu Assoziationen und Gesprächen formieren. Dieser Satz transzendiert die menschliche Existenz pfeilgerade ins Zentrum und eröffnet Welten um Welten, denn sobald wir die Begriffe Traum und Schatten bewegen, befinden wir uns in Nichtbegreiflichkeiten, in Vorstellungsräumen. Und genau in diesen beginnt Clara Oppel zu sprechen.
TRAUM
All ihre Arbeiten fußen auf dem Dreiklang von Visuellem, Akustischem und Räumlichem. In der Wahrnehmung dessen, was ein Objekt erzählt und auf der Suche nach dem, was ein Objekt erzählen kann, setzt Clara Oppel objekteigene und objektfremde Sounds aus O-Tönen vor allem in Symbiose. In Whispering Tulips bittet ein Tulpenmeer beispielsweise flüsternd um Befreiung, ein ganzes Tee-Service hält in Schlafstimmen auf einem schwebenden Tisch die Gespräche der abwesenden Gäste aufrecht. Oder sind es im Porzellan gefangene Stimmen? Die Tassen fungieren als Platzhalter ihrer Benutzer und Benutzung, das Klirren von Porzellan ist zu hören. Schwebend installiert in einen fast dunklen Raum verliert die Szenerie aber ihren Bezug, die Klänge werden frei, die Orientierung des Betrachters schwindet. Er kann beginnen, seine Wahrnehmung neu zu befragen, Phänomene neu auszuloten.
Clara Oppels beständiges Aufspüren der Nuancen, Farben und Töne die einem Ding, einem Wort, einem Gedanken innewohnen, sprechen eine Einladung an den Betrachter aus, genauer hinzuhören, sensibler wahrzunehmen, das Verhältnis zwischen Hören und Sehen immer wieder zu hinterfragen. Klangkunst wird dabei für Oppel zur grenzübergreifenden Sprache, die durch die paritätisch aufgeteilten Rollen der auditiven, visuellen und räumlichen Komponenten quasi zwangsläufig zu einer immateriellen Klangskulptur führen. Dann sind es wie bei Mindspace einerseits Erinnerungen, die durch die Wahrnehmung von Bekanntem beim Rezipienten innerlich abgerufen werden, sodass der Rezipient auf diese Weise für das Werk auch zum Parameter und eine unverfälschte, individuelle Raumerfahrung ermöglicht wird. Andererseits stellen Arbeiten wie Phones oder Schlechte Brille auch schon mal Forderungen, mit den Augen zu hören oder mit den Ohren zu sehen. Mindestens aber führen Oppels Arbeiten zu einer Konfrontation mit
der Vergänglichkeit, denn Klang ist flüchtig, Wahrnehmung und Erinnerung sehr individuelle, momenthafte Vorgänge. Die Dekontextualisierung von Klängen und Objekten, wie beispielsweise in Wiesenstück ein rundes Stück Wiese den Boden einer Kirche kontrastiert, bewirkt die Konfrontation der Natur mit dem Anthropozän und die Eröffnung eines weiteren Bedeutungsraumes: den Schatten des Menschen.
SCHATTEN
Unterscheidet sich der Mensch von anderen Lebewesen durch die Ausbildung eines Bewusstseins, ist damit vielleicht mehr als das nun jahrhundertelang betonte Alleinstellungs-merkmal verbunden. Bewusstwerdung bedeutet auch, die Folgen seiner Handlungen wahrnehmen und erkennen bzw. sogar voraussehen zu können. Dieses Gesehene zu integrieren, ist Gebot der Stunde, will aber erlernt sein. Der Mensch entscheidet immer, wie er handelt, diese Entscheidung wird ihm nicht abgenommen. Fraglich ist nur, wie bewusst er das tut. Jede menschliche Handlung birgt Schatten – das Unbewusste. Der bisherige Mensch hat meist die Augen vor diesen Schatten verschlossen und dadurch seiner eigenen Natur nicht entsprochen. Doch die Notwendigkeit solcher Schattenarbeit lässt sich angesichts des Zustands der Erde nicht leugnen. Die Angst vor schmerzhaften, unangenehmen Erfahrungen und Gefühlen darf einem neuen Mut und Vertrauen aus Gemeinschaft weichen und eine Umwertung auslösen hin zu einem integrativeren, relativierten Verständnis von Welt, Geschichte und Selbst. Vielleicht wollen Clara Oppels Klangskulpturen auch dazu ermuntern, denn sie stellen durch die Begegnung der verschiedenen Disziplinen unentwegt Zwischengestalten, Zwischenzeiten, Zwischenräume her. In solchen Metaräumen beginnt die Auseinandersetzung mit sich selbst und der Umwelt. So werden zeitkritische Aussagen transportiert, Erfahrungsräume transzendiert, Seele wird unvermittelt spürbar.
„Der Wind besänftigt, schlummernd der Hund, indes dieser ruht, hält jener sacht
die Bewegung der Atome inne,
besorgt, durch leichtes Raunen,
leisen und doch frevelhaften Laut,
die befriedete Stille zu entweihen.“
Aus Sor Juana Inés de la Cruz, Der Traum
SEELE
Clara Oppels Anliegen, das Dazwischen zu erkunden und die Seele in den Dingen aufzuspüren, führt sie zunehmend weg vom Objekt zur Linie, zur grafischen Gestalt von Malerei. Die Linie ist eine forschende Aufdeckerin, sie holt die Aufmerksamkeit auf den Punkt, sammelt das Darzustellende klar und pointiert ein und bringt oft das Unzumutbare zum Ausdruck. Reduziert auf solche grafische Strukturen am Boden liegender oder an der Wand hängender Lautsprecher, aus der sich Töne in den Raum erheben, vollzieht sich eine sukzessive Bewegung zur Essenz ihres Ausdrucks. Oppels Lautsprecher treten immer in Schwärmen auf, deren Stimmen untersuchen Ereignisverläufe, wenn sie kollektiv werden, verdichten auch die Klänge sich, ergänzen, sinfonieren oder löschen sich aus. Tritt man ein in diese Arbeiten, beginnt eine Erkenntnisreise zu ganz ontologischen Fragen: Wer sind wir? Wohin gehen wir? Jeder Raum hat seine Persönlichkeit, jedes Ding seinen Klang, der bei Clara Oppel in Bezug zur äußeren Umgebung gesetzt wird. In transient sind beispielsweise die Verständigungssignale dort lebender Fledermäuse nach unten transponiert, da das menschliche Ohr für die Frequenzen über 20 kHz physiologisch nicht empfänglich ist. Deren Austausch plötzlich hörbar zu haben, erfüllte die Künstlerin mit demütigem Respekt. Als Übersetzerin behandelt sie das akustische Material der jeweiligen Umgebung, im Fall von transient der Kasematte und ihrer natürlichen Bewohner. Sie führt die Sommergeräusche, bearbeitet, dem Winterquartier zu und erweitert damit sowohl deren Raum-, als auch deren Klangwirkung. Sie gibt dem Überhörten und kaum noch Wahrgenommenen eine Bühne. So werden ihre Arbeiten auch politisch. Die Relationen des Innen und Außen, des Einzelnen und Kollektiven verschwimmen. Es bietet sich ein neues in Beziehung treten mit sich selbst an und ein Neuverhandeln von Wahrnehmungstraditionen. Was wäre, wenn sich die Menschen selbst aus dem Zentrum ihrer eigenen Weltanschauung nehmen würden?
„Wie vermag man einen Willensakt von einer einfachen Vorstellung in dem Augenblick zu unterscheiden, wo gedankliche Empfindungen die leibliche Übertragung nicht mehr finden? Ich würde euch sicher tiefer gepackt haben, wenn ich die Geschichte von einem Kinde erzählt hätte, das zu Unrecht bestraft wurde. So habe ich euch durch einen Wirbelsturm geführt, möglicherweise ohne euch zu beunruhigen. … Aber körperliches Geschehen berührt uns nur, wenn man uns seinen geistigen Hintergrund zu deuten vermag.“
Aus: Antoine de Saint-Exupéry, Wind Sand und Sterne
GEIST
Über den Klang gelangt Clara Oppel ins Dreidimensionale. Durch die Mehrkanaligkeit – von stereo bis zu 20-kanalig arbeitete die Künstlerin bisher – werden Bewegung und Anordnung des Klangs im Raum organisiert. Es entsteht eine Umgestaltung des erlebten Raumes durch Klang. Das führt zu akustischen Bildern, die weder festgehalten noch reproduziert werden können. Durch dieses akusmatische Drapieren und Bewegen von Klang im Raum entstehen Geister, da die Klänge auf keine objekthafte Quelle zurückführen. Clara Oppels Arbeiten geraten zunehmend visuell reduzierter, einen Raum nur über den Ton zu kreieren, beschreibt sie als Königsdisziplin.
Wenn nur der Schall wirkt, mündet ihre Arbeit ins Immaterielle – ein erstrebenswerter Gedanke, auch im Sinne der Nachhaltigkeit. Überhaupt sind Oppels Arbeiten selten reproduzierbar: Sie verwendet die Materialien und Lautsprecher gern mehrmals, setzt sie verändert wieder ein, um dem Material wenigstens ansatzweise ein zirkulierendes Dasein zu verschaffen.
Ohne rückbezüglichen Gegenstand geraten Klänge zu Wesen, Geistern. Anwesenheiten werden personifiziert und irritieren, denn Menschen gebrauchen Klanginformationen zur Koordination, sich im Raum zu bewegen. Außerdem ist das Ohr des Menschen auch für dessen Gleichgewichtssinn zuständig. Nur ist die Menschheit schon lange aus der Balance mit sich und im Umgang mit der Welt gebracht. Unterstützt das genaue Hören womöglich diesen so not-wendigen Prozess des Ausbalancierens eines veränderten Selbst- und Weltverständnisses? Ab wann kann man sich aber überhaupt als Hörende/r bezeichnen? Feine, dünne, hohe, leise Töne werden oft nicht mehr wahrgenommen, weil die Zeit sogar zum Hören zu knapp wird. Und auch Stille ist ein Phänomen der Hörenden. Die letzte Macht ist Stille, Klang wird zu Rauschen verdichtet, zwischen Vertrautem und Fremdem, Altem und Neuem, Bekanntem und Unbekanntem ist der einzige Ausweg für die Menschheit der Mensch selbst in seinem ganz persönlichen Innenraum, seinem Geist.