Clara Oppel: Breathing Space– Ausstellungseröffnung Marburger Kunstverein, 2015

Text: Friedrich W. Block
Übersetzung: Keith David Harris

„Wie kannst du Freude haben an einer Welt, die du nicht siehst, wenn du die Augen schließt?“ (Fariduddin Attar)

Schließen Sie also die Augen, meine Damen und Herren, und sehen Sie, nein: hören Sie, wie sich Tausend Vögel erheben. Sie durchfliegen die Täler der Leiden und Leidenschaften. Begierde, Liebe, Wissen, Enthaltsamkeit, Einheit, Bestürzung, Auflösung. Nur dreißig Vögel schaffen es bis ans Ende der Welt zu den Bergen, die sie umgeben, dort, wo der weise Vogelkönig lebt, ein Wiedehopf mit Namen Simorgh. „Si morgh“ – das bedeutet: „dreißig Vögel“. An ihrem Ziel angekommen, erkennen die Vögel, dass sie sich selbst gesucht und gefunden haben.

Augen weit zu: Sie sehen vor sich vier federleichte Pergamentbögen, durchscheinend grazile Kabellinien, die in Piezotupfern enden, an die dreißig könnten es sein. Aus ihnen erklingt ein Konzert zarter hoher Töne, Vogelstimmen gleich. Sie sind herausgefiltert aus den aufgezeichneten Vogelgesprächen, die der persische Sufi-Dichter Fariduddin Attar im Jahre 1177 verfasste. Simorgh ist der Titel dieses Lautgedichts von Clara Oppel. Dreißig Vögel.

Am Anfang war der Schall. Die Welt ist ein universeller Schallraum. Den Nachhall ihres Anfangs, der sicherlich ohne Anfang ist, hat man unlängst erstmals aufgezeichnet, im Mikrowellenbereich der kosmischen Hintergrundstrahlung. Am Anfang des auditiven Aufschreibesystems aber steht vor gut 200 Jahren ein Bleistift, der die Schwingungen einer Stimmgabel überträgt, ein Wellenschreiber. 

Er führt direkt zum Phonographen, den Thomas Alva Edison 1877 als so genannte Sprechmaschine patentieren ließ. So sind es anfangs vor allem Stimmen, die aufgezeichnet, ge-speichert, verarbeitet und über Lautsprecher wiedergegeben werden. Stimmen – das Persönlichste, das die Menschen wie die Vögel klanglich hervorbringen, gemischt mit dem Nachhall des Urknalls.

Klang, Zeichnung, Stimme, Sprache, natürliche und kultürliche Sounds, ihre technische Aufnahme, kompositorische Bearbeitung und rhythmische Inszenierung im und als Raum, das sind Parameter von Clara Oppels einzigartiger Klangkunst, die heute hier im Marburger Kunstverein ihre bislang größte Ausstellung erfährt. Und dazu beglückwünsche ich die Künstlerin, den Kunstverein und uns, das Publikum.

Dass Visuelles und Auditives in dieser Ausstellung sich so eng und faszinierend gegenseitig durchdringen, erschließt sich schon aus dem Werdegang der Künstlerin, die mit Zeichnung, Malerei und Bildhauerei begonnen hat. Ihre Erkundung des Raumes, das Interesse, diesen ganz und rundum, von innen wie außen zu erschließen, führte dann bald zum Klang, wobei die bildnerischen Techniken präsent bleiben. Und darin spiegelt sich durchaus auch die Geschichte der Klangkunst, die ihren Anfang mit der avantgardistischen Entgrenzung der Einzelkünste nimmt und ein vielfältiges Programm entwickelt. So wie es unter anderem bereits 1913 der futuristische Maler Luigi Russolo in seinem Manifest Die Kunst der Geräusche fordert und mit zahlreichen Klangobjekten und -experimenten umzusetzen beginnt.

Clara Oppel zeigt auf den zwei Etagen hier neun Arbeiten aus zwei Jahrzehnten, Älteres neben Neuem, große Rauminstallationen neben kleineren Objekten und Skulpturen.

„Ich beschäftige mich“, erklärt sie, „mit Klängen, Geräuschen und Sprache als Material. Im Besonderen widme ich mich der Anordnung und Bewegung von akustischen Signalen im Raum. Dadurch bringe ich den fast materielosen Klang in eine körperliche Erscheinung. Erzeuge dabei synästhetische Situationen. Klang und Bild setzen sich in Beziehung über die optische Ebene und räumliche Dimension hinaus in die Wahrnehmung leitende akustische Ebene.“

Beispielsweise die große Installation Breathing Space in der oberen Etage des Marburger Kunstvereins. Unglaubliche 5400 Lautsprecher sind da als Band über den Boden arrangiert. Über 8-Kanaltontechnik sind acht Klangfelder zu je 675 Lautsprechern definiert, über die sich das Klangmaterial rhythmisch bewegt. Der Sound ist aus elektronisch abstrahierter Sprache komponiert, vermischt mit O-Tönen aus der Umwelt oder künstlichen Klängen.

Oder sollte man besser sagen, dass wir hier eine Choreografie der Klänge erleben, die durch den Raum tanzen, laufen, hüpfen, aneinanderstoßen, in Pausen innehalten und so den Raum erst im Verbund mit unserem Hören und Sehen und der eigenen Bewegung überhaupt erst schaffen? Horizontal und vertikal die Klangbewegung, denn diese verläuft nicht nur parallel zum Boden, sondern durch die nach oben gerichteten Lautsprecher auch von unten nach oben und von der Decke zurückreflektiert als Klangsäulen. Zwei sich kreuzende Raumachsen also, Waagerechte und Senkrechte, was der Arbeit auch konstruktivistische Züge gibt wie in der konkreten Kunst.

Ich tauche völlig ein in diese Klangatmosphäre, ihre Bewegung hin und her, das Atmen des Raumes, der ich auch selber bin, weil ich selbst Klangkörper bin und sich mein Atmen mit dem der Installation vermischt wie ihr Schatten: – „solang mund geht auf und zu / solang luft geht aus und ein“ (Ernst Jandl) …

„Eines Schattens Traum sind Menschen“ – Diesen Satz hat die Künstlerin lautlich atomisiert und daraus das sprachliche Klangmaterial für Breathing Space gewonnen. Der Satz hat schon viele große Geister vor ihr fasziniert, Goethe etwa oder Hölderlin, der ihn aus dem Griechischen übersetzt hat, nämlich in seiner Nachdichtung von Pindars 8. Pythischer Ode aus der Mitte des fünften vorchristlichen Jahrhunderts. 

Sie ist einem olympischen Spitzensportler und Sieger gewidmet und bedenkt, wie sehr doch auch solcher Erfolg vergänglich ist. Was also ist der Mensch, was sind wir zwischen dem ersten Einatmen und dem letzten Ausatmen? Danach, davor, dazwischen? Aufgehoben vielleicht in einem universellen Klangraum. 

Ich habe Clara Oppel 2009 kennengelernt und sie eingeladen, für die Sprachkunstausstellung POESIS mit poetischen Sprachspielen in der Berliner Akademie der Künste eine Arbeit zu entwickeln. Daraus wurde die ganz für den dortigen Raum konzipierte, daher einmalige Arbeit transeunt mit 1200 Lautsprechern über vier Kanäle. Das Klangmaterial rührte von zahlreichen O-Ton-Stimmen mit autobiografischen Äußerungen her, die sich durch den Raum der Akademie bewegten. Ein wundervoller Beitrag zur Poesie, wie ich sie brauche. Denn ich verstehe Clara Oppels sprachbasierte Klangkunst als hervorragendes Beispiel der Poesie als eigener Kunst zwischen den Künsten. Schon aus zwei wesentlichen Gründen: 

Die Art wie sie mit Sprache umgeht, führt vorausweisend zurück zu einer synästhetischen und intermedialen Gesamtkunst, die in den verbivocovisuellen Möglichkeiten der Sprache potenziell steckt.

Zugleich geschieht das bei ihr in einer Art, die den Begriff der Poesie in seinem buchstäblichen Sinn einholt. Denn sie lässt uns achtsam werden für den Augenblick des Hervorbringens, der Poesis zwischen Form und Nichtform, dem wir so gern Dauer verleihen würden. 

Denn auch die Nichtform, die Leerheit, die alles umfassende Stille ist in Clara Oppels Werk als Ermöglichung des Klangs immer zugleich präsent, und sei es als eine kleine schlechte Lautsprecher-Brille, mit der man nichts sehen oder hören kann, es sei denn – so wie es in dem 2000 Jahre alten indischen Herz-Gedicht heißt: 

„Form ist leer,
Leerheit ist Form,
Form ist nichts anderes als Leerheit,
auch ist Leerheit nichts anderes als Form.“

Oder mit John Cage in seiner von Ernst Jandl übersetzten Lecture on Nothing:
„Unsere Poesie jetzt / ist die Erkenntnis / dass wir nichts / besitzen / Alles / ist daher / ein Vergnügen“